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Europa braucht eine bessere geoökonomische Strategie

Dieser Artikel wurde erstmals als Gastbeitrag in der FAZ am 12. September 2023 veröffentlicht.

Die auf Regeln basierende liberale Weltordnung ist geschwächt. Die Europäische Union muss sich an die neue Rivalität der Großmächte anpassen. Dafür seien laut Guntram Wolff und Federico Steinberg nun drei Schritte nötig. Wie diese aussehen sollten, führen sie im folgenden Beitrag aus sowie beim informellen Treffen der EU-Finanzminister am 16. September in Santiago de Compostela.

Wirtschaftliche Sicherheit ist ein weites und schwer fassbares Konzept. Im Zeitalter geopolitischer Risiken, eines Krieges in Europa, von Pandemien und des Klimawandels fällt es den Regierungen Europas schwer, Prioritäten zu setzen.

Die Europäische Union will zwar die auf Regeln basierende liberale Weltordnung stärken, sie muss sich aber auf ihren möglichen Zusammenbruch vorbereiten. Um im Wettbewerb der Großmächte zu bestehen und der machtpolitischen Ausnutzung von Abhängigkeiten zu begegnen, muss die EU eine geoökonomische Strategie entwickeln.

Gerade Deutschland muss seine Strategie dringlich festlegen. Erstens gehört die deutsche Wirtschaft zu den international offensten in der EU, mit Investitionen in China und einem Exportanteil von mehr als 50 Prozent am Bruttoinlandsprodukt 2022. Zweitens haben es deutsche Politiker und Unternehmen versäumt, sich auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Gas vorzubereiten, was eine Debatte über die Grenzen der Strategie „Wandel durch Handel“ und die Energiesicherheit auslöste. Drittens ist Deutschland eine große Volkswirtschaft mit tiefen Finanztaschen. Deutsche Entscheidungen werden die europäische Wirtschaftsstrategie prägen, sei es in der Industrie- oder Handelspolitik.

In der EU besteht keine Einigkeit

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Außenministerin Annalena Baerbock haben die Debatte über wirtschaftliche Sicherheit mit der Forderung nach Reduzierung der China-Risiken („De-Risking“) eingeleitet. Es gibt auch eine deutsche Chinastrategie. Doch China ist nicht nur in Europa schon präsent, die Bundesregierung hat auch neue Investitionen etwa in den Hamburger Hafen genehmigt.

Konzerne wie BASF investieren weiterhin in China, viele Dax-Unternehmen erwirtschaften große Teile ihrer Gewinne dort. Die EU-Kommission hat eine Strategie für wirtschaftliche Sicherheit und Industriepolitik vorgelegt. Sie zielt darauf, Chinas Dominanz in Teilen der grünen Lieferkette, die US-Subventionen und den grünen Protektionismus des amerikanischen „Inflation Reduction Act“ anzugehen.

Trotz dieser Initiativen besteht in der EU keine Einigkeit über die Ziele, die Mittel, die Prioritäten und den Weg zur wirtschaftlichen Sicherheit. Zwei Ansätze stehen sich gegenüber: Die eine Gruppe argumentiert, dass geopolitische Störungen bewältigt werden können, wenn sie auftreten, und betont die Notwendigkeit, die Offenheit und die multilateralen Regeln zu schützen.

Die Gegenseite argumentiert, dass die EU und vor allem Deutschland einen Kurswechsel vornehmen und sich an die neue Großmachtrivalität anpassen müssen, indem sie inländischen Investitionen und Industriepolitik Vorrang einräumen und den Handel mit Ländern, die nicht „gleichgesinnt“ sind, verringern. Damit würde sich die EU den USA anschließen, die zwar von „De-Risking“ sprechen, aber versuchen könnten, sich von China abzukoppeln, falls die Republikaner die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen.

Beide Seiten liegen falsch. Die erste Sichtweise unterschätzt die wirtschaftlichen und politischen Kosten einer größeren geopolitischen Konfrontation. Geopolitische Risiken sind real, ihnen unvorbereitet zu begegnen wäre mit hohen Kosten verbunden.

Die zweite Sichtweise ist naiv, was die Durchführbarkeit und Erschwinglichkeit der Verlagerung von Lieferketten angeht: Subventionen können die langfristigen komparativen Vorteile nicht verändern und würden leicht unerschwinglich werden. Zudem birgt die Umstellung der Lieferketten auf lokale Erzeuger ebenfalls Risiken. So werden die Kosten einer Fragmentierung der Weltwirtschaft in rivalisierende Blöcke (die der IWF auf 7 Prozent des globalen BIP, rund 7,4 Billionen Dollar schätzt) von Politikern und Bürgern meist nicht richtig verstanden.

Differenzierte Antwort in drei Schritten

Eine differenziertere Antwort in drei Schritten ist erforderlich. Erstens muss die EU der Bewältigung harter wirtschaftlich-militärischer Sicherheitsrisiken Vorrang einräumen. Zweitens muss sie ihre Widerstandsfähigkeit erhöhen, um mit wirtschaftlichem Zwang und unkooperativen Volkswirtschaften umgehen zu können. Drittens erfordert wirtschaftliche Sicherheit Investitionen in öffentliche Güter, die auf EU-Ebene billiger zu beschaffen sind.

Erstens betreffen harte Sicherheitsfragen vor allem Spitzentechnologie, die sowohl kommerziell als auch militärisch von Nutzen sein kann. Im Technologiebereich herrscht intensiver Wettbewerb zwischen den USA und China, beide bewegen sich Richtung technologischer Abkopplung. Ein wichtiges Dilemma für die EU/Deutschland besteht darin, zu definieren, welche Technologien unter die Exportkontrollen und das Screening ausländischer Investitionen fallen sollten.

Eine enge Definition von Spitzentechnologie mit doppeltem Verwendungszweck würde übermäßig hohe wirtschaftliche Kosten vermeiden, aber die Sicherheit möglicherweise nur begrenzt schützen. Eine weiter gefasste Definition sicherheitsrelevanter Technologie birgt nicht nur die Gefahr, dass Handel massiv untergraben würde, sondern könnte aufgrund zusätzlichen bürokratischen Aufwands und unzureichender Koordinierung zwischen den EU-Staaten schwer zu handhaben sein. Der jüngste US-Vorschlag zur Kontrolle von Auslandsinvestitionen ist relativ eng gefasst. Unserer Ansicht nach ist eine solche enge Definition auch für die EU der richtige Kompromiss zwischen wirtschaftlicher Effizienz und Sicherheit.

Der Chips Act der EU ist im Prinzip zu begrüßen

In diesem Zusammenhang ist der Ansatz der EU, mit dem Chips Act einen Hightech-Cluster für Halbleiter aufzubauen, im Prinzip zu begrüßen. Die Subventionen sind aber hoch und einzelne Programme kritisch zu bewerten. Der Versuch, die Abhängigkeit von der stark konzentrierten Produktion von High-End-Chips in Taiwan zu verringern, ist jedoch ein Schritt zum Aufbau eines Hightech-Ökosystems. Der Hauptfokus sollte auf der Erlangung spezifischer Technologieführerschaft liegen, um geoökonomische Hebel aufzubauen.

Darüber hinaus muss der EU-Mechanismus zur Prüfung eingehender Investitionen rigoros umgesetzt werden, um die Sicherheit kritischer Infrastrukturen zu gewährleisten. Aus makroökonomischer Sicht ist Chinas Investitionsbestand in der EU gering (ebenso wie die Investitionen der EU in China). Die Sicherheitsinformationen über Investitionen im EU-Binnenmarkt sind allerdings trotz der schon 600 überprüften eingehenden Investitionen unvollständig. Zudem ist eine Debatte angebracht über die Erweiterung der Kriterien für eine Ablehnung von Investitionen wegen fehlenden Marktzugangs, um die Verhandlungsposition der EU zu stärken.

Ebenfalls angebracht wäre es, Investitionen im Ausland zu überprüfen zur Begrenzung der Verbreitung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck. Sollen Exportkontrollen durchgesetzt werden, gilt es zu verhindern, dass Unternehmen alternativ ihre Produktion verlagern. Es gibt darüber aber keine Einigkeit in der EU und keine Mechanismen.

Ein gemeinsames Verständnis der Risiken ist erforderlich

Eine vollständige Europäisierung der Mechanismen zur Überwachung von Investitionen und zur Ausfuhrkontrolle trüge dazu bei, den Binnenmarkt vor Fragmentierungen zu schützen, die auf unterschiedlichen Sicherheitsüberlegungen beruhen. Dies erforderte jedoch ein gemeinsames Verständnis von Sicherheitsrisiken. Darauf ist die EU institutionell nicht vorbereitet.

Die nationale Sicherheit liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Als ersten Schritt schlagen wir daher die Bildung eines „Europäischen Ausschusses für wirtschaftliche Sicherheit“ vor, der eine bessere Koordinierung der nationalen Sicherheitserwägungen mit der Wirtschaftspolitik der EU gewährleisten würde.

Die Staats- und Regierungschefs der G 7 haben sich im Mai in Hiroshima auf ihren grundlegenden Ansatz zur wirtschaftlichen Sicherheit geeinigt. Die USA könnten jedoch ihren Ansatz unter einer neuen Regierung ändern. Sie könnten von EU-Unternehmen mithilfe von Sekundärsanktionen verlangen, dass diese strengere US-Restriktionen vollständig einhalten. Die EU muss eine Strategie entwickeln, wie sie mit dieser Art von Eingriffen in ihren Binnenmarkt umgeht. Klar ist: EU-Unternehmen müssen sich auf extreme Szenarien vorbereiten.

Die Vorbereitung auf folgenschwere Ereignisse ist wichtig

Zweitens sollte die Vorbereitung auf Ereignisse, die schwere Folgen für die Weltwirtschaft hätten, wie eine größere Konfrontation im indopazifischen Raum, oberste Priorität haben. Datengestützte Stresstests sind ein gutes Instrument, um schädliche Schwachstellen und übermäßige Abhängigkeiten zu identifizieren. So können Zolldaten verwendet werden, um Waren aufzuspüren, für die es nur wenige Lieferanten gibt. Studien zeigen, dass exzessive Abhängigkeiten nur für wenige Waren bestehen.

Die Rückverlagerung von Produktion (Re-Shoring) zur Bewältigung solcher Abhängigkeiten wäre aber kostspielig, und neue Risiken, etwa durch den Klimawandel, bestehen auch im Heimatmarkt. Handelsabkommen mit Drittländern schafften hingegen Möglichkeiten zur Diversifizierung. Der zusätzliche Wettbewerb würde die EU-Wirtschaft widerstandsfähiger machen. Mit dem Abschluss ehrgeiziger Handelsabkommen unterschiede sich die EU auch von den USA, wo eine weitere Handelsliberalisierung politisch nicht durchsetzbar ist.

Eine rasche Ratifizierung des Mercosur-Abkommens wäre besonders vorteilhaft. Es verschaffte EU-Unternehmen Zugang zu mehr als 260 Millionen Verbrauchern, erhöhte die Regulierungsmacht der EU und ermöglichte Zugang zu wichtigen, kritischen Rohstoffen. Um das Abkommen abzuschließen, muss die EU überzogene Forderungen aufgeben, eine Beziehung als gleichberechtigter Partner akzeptieren und ihren Binnenmarkt öffnen.

Mehr Diversifizierung löst nicht alle Risiken

Eine stärkere Diversifizierung durch Handelsabkommen löst aber nicht alle Risiken. Einige spezifische Risiken in der Lieferkette erfordern ein Eingreifen der Politik. Im Prinzip sind Unternehmen für ihre Lieferketten selbst verantwortlich, allerdings rechtfertigen systemische Anfälligkeiten sowie das moralische Risiko (Unternehmen könnten darauf spekulieren, im Notfall Hilfe zu bekommen) ein staatliches Eingreifen. Empirisch sollte daher analysiert werden, welche Lieferketten ein Systemrisiko aufweisen, das von einzelnen Unternehmen nicht angemessen berücksichtigt werden kann. Staatliche Eingriffe sollten auf solche Risiken beschränkt werden.

Auch Industriepolitik und Staatshilfen können bei der Bewältigung spezifischer Risiken eine Rolle spielen. Die EU sollte es jedoch möglichst vermeiden, sich in einen unkooperativen Subventionswettlauf hineinziehen zu lassen. Chinas aggressive staatliche Subventionen und Verdrängungspreise im grünen Sektor sind unkooperativ und haben eine unkooperative Reaktion der USA ausgelöst.

Sollte die EU sich darauf einlassen, würde sich ein für die Steuerzahler teurer Subventionswettlauf entwickeln, der zu Verzerrungen in der Weltwirtschaft führen und eine Reaktion des „globalen Südens“ nach sich ziehen würde. Zudem führten Subventionen in der EU zu Verzerrungen im Binnenmarkt, da einige Länder wie Deutschland über tiefere Taschen verfügen.

Um eine Verschlechterung der Lage zu vermeiden, sollte die EU, im Sinne der Welthandelsorganisation WTO, Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen gegen China ergreifen. Das wäre ein starkes Signal für den Wert multilateraler Regeln an die globalen Partner. Ganz ohne Subventionen wird es in einem unkooperativen Spiel aber nicht gehen.

Stärkerer Fokus auf Innovation und neue Technologien

Industriepolitik sollte sich aber auf jene Waren und Dienstleistungen beschränken, bei denen übermäßige Abhängigkeiten bestehen, und so globale Ge­genreaktionen minimieren. Eine stärkere Fokussierung auf Innovation und neue Technologien trüge außerdem dazu bei, die Risiken der Vereinnahmung durch etablierte Interessen zu verringern. Um eine Fragmentierung des Binnenmarktes zu vermeiden, sollten diese Subventionen idealerweise auf EU-Ebene finanziert werden.

Die Sicherung der Energieversorgung und der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft erfordern besonderes Augenmerk. Nachdem Russland seine Gaslieferungen in erheblichem Umfang eingestellt und Deutschland seine Kernkraftwerke abgeschaltet hat, sind die EU und Deutschland stärker von zwei Flüssiggaslieferanten abhängig geworden, den USA und Qatar. Eine stärkere Diversifizierung der LNG-Produktion trüge zur wirtschaftlichen Sicherheit bei.

Doch trotz dieser Bemühungen sind die Energiepreise nach wie vor relativ hoch. Die europäische Industrie hat sich zwar beeindruckend an den Preisschock von 2022 angepasst, aber wenn die Energiepreise dauerhaft höher bleiben und erneuerbare Energie nicht schnell und günstig verfügbar ist, dürften einige Industrien langfristig nicht in Europa zu halten sein. Auch dies wird Folgen für die Sicherheit haben.

Mehr EU-Geld für Verteidigungsforschung

Drittens haben die neuen geopolitischen Realitäten den Bedarf an europäischen öffentlichen Gütern in Forschung und Entwicklung, Verteidigung, Innovation, Energie, Nachhaltigkeit und Technologie deutlich gemacht. Eine Ausweitung der EU-Finanzierung für Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich würde Innovation fördern und zum Aufbau eines integrierten europäischen Verteidigungsmarktes beitragen.

Die Erfahrungen der USA mit der DARPA zeigen, dass solche Investitionen auch für zivile Zwecke eingesetzt werden können und Wirtschaftswachstum und Produktivität steigern. Ressourcen für den Wiederaufbau der Ukraine sind eine Investition in die künftige Sicherheit und Wirtschaft der EU. Für beides wäre ein gemeinsames EU-Schuldeninstrument der richtige Weg, da es sich bei beiden öffentlichen Gütern um Investitionen handelt, die Wachstum generieren werden.

Der EU-Haushalt sollte so angepasst werden, dass er sich stärker auf die wirtschaftliche Sicherheit konzentriert. So könnte Industriepolitik für Dekarbonisierung, grüne Technologien und Energiesicherheit durch den EU-Haushalt gefördert werden. Sich wirtschaftlichem Zwang zu widersetzen oder ausländische Investitionen aus Gründen der europäischen Sicherheit abzulehnen, kann für einzelne EU-Mitgliedstaaten mit erheblichen Kosten verbunden sein. EU-Haushaltsmittel zur Kompensation spezifischer Verluste wären ein natürliches Instrument, um den Zusammenhalt in der EU-Außenpolitik zu erhöhen.

Mehr Handel statt Re-Shoring

Schließlich kämen ein stärkerer Euro und eine tiefere Finanzintegration nicht nur der Wirtschaft der Eurozone zugute. Sie wären auch ein wirtschaftlicher Machtfaktor. Hierfür müsste die EU bereit sein, die politische Natur des Geldes zu nutzen und den Euro als internationale Währung zu fördern. Eine begrenzte, aber dauerhafte gemeinsame Verschuldung zur Finanzierung ausgewählter europäischer öffentlicher Güter sowie vertiefte Kapitalmärkte und ein integrierter Bankenmarkt würden die Rolle des Euros als Reservewährung stärken und die EU mit solchen geoökonomischen Fähigkeiten ausstatten.

Wirtschaftliche Sicherheit wird eine immer wichtigere Rolle in der globalen politischen Ökonomie spielen. Die EU fühlt sich weder mit der machtpolitischen Ausnutzung von Abhängigkeiten wohl, noch ist sie institutionell für eine weniger kooperative Welt ausgelegt. Doch kann sie es sich nicht leisten, einfach ihr altes Modell fortzusetzen und zu hoffen, dass sich eine regelbasierte Welt durchsetzt. Es wäre aber auch ein äußerst kostspieliger Fehler, sich von der globalen Integration abzuwenden und sich auf ein mechanisches Re-Shoring mit Quoten für die heimische Produktion und massiven Subventionen einzulassen.

Unser Ansatz setzt auf mehr Handel statt auf Re-Shoring. Er setzt auf die Stresstest-getriebene Identifizierung harter Sicherheitsrisiken, denen mit geeigneten Instrumenten einschließlich Indus­triepolitik, begegnet werden kann. Und er setzt auf eine tiefere wirtschaftliche wie finanzielle Integration, um die geoökonomische Macht der EU zu erhöhen.

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